Biblische Wirtschaftsdoktrin & Utopie oder prophetisch anmutender Realismus?
Unzeitgemäße Überlegungen zu einem Thema von hoher Brisanz.
Im vorletzten Gemeindeblatt hat DI Fritz Richter in einem Artikel über "Wirtschaft und Ethik" nachgedacht. So manches an den gegenwärtigen Problemen erscheint uns fragwürdig und verunsichert. Das Vertrauen in den Welthandel mit seinen eigenen Gesetzen gibt es nicht mehr, die beiden Türme des World-Trade-Centers sind eingestürzt; und wir sehen fast tagtäglich die hilflosen Versuche, dieses Trauma zu bewältigen. In diesem Zusammenhang wird berechtigt die Frage nach der Ethik in der Wirtschaft immer lauter gestellt und Lösungsversuche müssen nicht nur für das "eigene Haus" - sondern auch für das "globale Dorf" erarbeitet werden. Der alttestamentliche Ansatz das Wirtschaftsleben auf ein hohes ethisches Niveau zu stellen, lohnt einmal gründlich durchdacht zu werden.
Schöpfungstheologie: Gesetze der Wirtschaft
Ausgehend von der Schöpfungstheologie versucht man die wirtschaftlichen Gesetze und Gesetzmäßigkeiten zu durchwirken. Hat Gott in 6 Tagen alles geschaffen und am 7. geruht, soll nun in der bäuerlichen Struktur des alten Israels die (Land-)Wirtschaft 6 Jahre die Felder bestellen - im 7. Jahr, ein Sabbatjahr halten, nicht säen, nicht ernten und nur von dem leben, was das Land von selbst hervorbringt (3.Mos 25,1-8). Das auserwählte Volk sollte nicht nur sich, sondern auch das ihm von Gott gegebene Land, Gottes Führung und seinem Segen anvertrauen.
Noch ist dies nicht der Weisheit letzter Schluss! Man geht noch einen entscheidenden Schritt weiter: man zählt die Sabbatjahre und bringt sie in das überschaubare Bild der Woche (3.Mos 25,8ff) "zähle sieben Sabbatjahre, siebenmal sieben Jahre, ... [= neunundvierzig Jahre] ... Da sollst du die Posaune blasen lassen durch euer ganzes Land am zehnten Tage des siebenten Monats, am Versöhnungstag (= Jom Kippur). Und ihr sollt das fünfzigste Jahr heiligen und sollt eine Freilassung ausrufen im Lande für alle, die darin wohnen; es soll ein Erlassjahr für euch sein."
Erlassjahr oder "Jobel"-Jahr wird dann genau definiert. Wie im Sabbatjahr soll nicht gesät, nicht geerntet werden, man soll nur von dem leben, was das Land von sich aus hervorbringt - und alle Besitzveränderungen werden (außer in den Städten V. 25-34) rückgängig gemacht. Sollte jemand in Schuldknechtschaft geraten sein, geht er frei und erhält seinen angestammten Besitz zurück (V 13) - denn " das Land ist mein, und ihr seid Fremdlinge .. bei mir"(V 23).
Die Frage, die uns sofort auf der Zunge liegt, wenn wir dieses System bedenken, wird aufgegriffen: "(V20-22). Und wenn ihr sagt: Was sollen wir essen im siebenten Jahr [eigentlich: 49. und 50. Jahr]? Denn wenn wir nicht säen, so sammeln wir auch kein Getreide ein -, so will ich meinem Segen über euch im sechsten Jahr gebieten, dass er Getreide schaffen soll für drei Jahre, dass ihr säet im achten Jahr und von dem alten Getreide esset bis in das neunte Jahr, so dass ihr vom alten esset, bis wieder neues Getreide kommt.".
Das 50. Jahr: Ein Prüfungsjahr des Gottvertrauens. Ist dies je praktiziert worden? - fragt man sich unweigerlich!
Chancen für heute? - Chancen!
Außerbiblisch - und das ist bemerkenswert! - sind uns bei Flavius Josephus, dem großen jüdischen Historiker des 1. Jahrhunderts n.Chr., zwar die Sabbatjahre 164/3, 38/7 v.Chr., 68/9 n.Chr. belegt, zum Erlassjahr weiß er jedoch nur zu sagen, dass es mit der Eroberung des Ostjordanlandes durch die Assyrer (Seleukiden) außer Kraft gesetzt worden sei, denn zu seiner Durchführung hätte Israel nach Stämmen geordnet in Palästina leben müssen.
Das heißt: Bis ins 4.Jh.v.Chr. waren diese Vorschriften gängige Wirtschaftsdoktrin. Wir sollten diese alttestamentlichen Wirtschafts-überlegungen nicht zu schnell in den Bereich der Utopie abschieben; über Jahrhunderte wurden sie praktiziert ... und haben funktioniert! Durch Missernten in wirtschaftliche Schwierigkeiten geratene Familien sollten nicht auf ewig in Armut leben müssen, sondern eine neue Chance bekommen. Bedenken wir die Vorschriften zum Erlassjahr aus heutiger Sicht, könnten sich folgende Bilder vor unserem forschenden Auge ergeben:
- die ehemaligen Kolonien wurden in die "Freiheit" entlassen; aber wurde ihnen die Möglichkeit eingeräumt, wieder neu anzufangen? Sind sie nicht alle wieder sehr schnell in die Abhängigkeit multinationaler Konzerne geraten, die keine Eigenständigkeit zulassen? Lateinamerika mit seiner desaströsen Wirtschaft und ebensolchen politischen Verhältnissen ist ein schlagender Beweis. Seit Jahren versuchen Kirchen mit großangelegten Armutskonferenzen, dem Versuch von "Ent-Schuldung" ein neues Bewusstsein zu schaffen. Aber ...
- Krisenherd Naher Osten: Israel feierte 1998 sein 50jähriges Bestehen - und ich frage mich (zusehend nachdenklicher werdend) - wie hätte sich die politische Kultur verändert, wenn die Vorschriften des Erlassjahres umgesetzt worden wären. Welch ein Kapital an Hoffnung in der Region der Hoffnungslosigkeit!
- Naher-, Mittlerer- und Ferner Osten, Afrika, Mittel- und Südamerika, Osteuropa und die russischen Nachfolgestaaten... wie lange können / dürfen die wenigen "Reichen Staaten" (G7-Staaten) auf Kosten aller anderen leben? - und das ist eine zutiefst ethische Frage nach Recht und Gerechtigkeit im Zusammenleben der Menschen untereinander im Gegenüber zu ihrem Schöpfer.
Der Entwurf des Alten Testaments geht von der Schöpfungsordnung aus, orientiert sich am Naturgesetz. Eine Wirtschaftsordnung, die dies aufgreift, ist wohl kaum weltfremd und utopisch, sondern vermutlich - in großen Zeitbezügen gedacht, d.h. in Jahrhunderten, prophetisch anmutender Realismus.
Julian Sartorius
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